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LUKAS SCHILLING

You are the help until help arrives

2022

Videoinstallation

Die Bilder der Videoarbeit „You are the help until help arrives“ wirken wie die Sequenzen eines Fluchttraums. Alles soll ganz schnell gehen, doch die Bewegungen gerinnen, als würden sie von einer großen Trägheit beherrscht, in einer Zeitlupe. Wie eingeschlafen wirkt die Frau in der ersten Szene, die auf einer Decke im Eingang eines Hauses liegt. Es lässt sich nicht genau sagen, ob die Bewegungen ihrer Beine bewusst oder lediglich unwillkürlich geschehen. Braucht sie Hilfe oder wäre es unhöflich sie zu wecken? Im Anschluss steigen Menschen wie Schlafwandler eine Treppe herab und geben dabei den Blick auf einen auf dieser Treppe liegenden menschlichen Körper frei. Dem Zuschauer drängt sich neben der Frage nach dem Zustand der liegenden Person die Frage nach den Ursachen der Ignoranz der Passanten auf. Darauf folgt eine Szene, die auf einer Wiese kniende und kauernde Menschen zeigt. Ein Mann hält sich einen umgedrehten weißen Klappstuhl über den Kopf. Zwischen den Kauernden steht ein Mann. Gilt ihre Haltung ihm, oder fürchten sie, der Himmel könnte ihnen auf den Kopf fallen? Während der weiteren Szenen wird deutlich, worum es geht. Die Aufnahmen entstanden während der Übung eines Community Emergency Response Teams (CERT), einer nachbarschaftlich organisierten Katastrophenübung in einem Stadtteil der am San-Andreas-Graben gelegenen Stadt Los Angeles im US-Bundesstaat Kalifornien. Grund der Übung ist die Erwartung eines Erdbebens der Stärke 9 – einem „Big One“, dessen Auswirkungen so verheerend wären, dass offizielle Notfallmechanismen versagen und Kommunikations- und Infrastrukturen vorübergehend zusammenbrächen. In der Folge einer solchen Katastrophe wären große Teile der Betroffenen in der Metropolregion auf sich und die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung angewiesen.

Der Titel der Arbeit zitiert einen der einprägsamen Leitsätze der Katastrophenübungsgemeinschaft: „You are the help until help arrives.“ – Du bist die Hilfe bis Hilfe eintrifft. Zunächst kann dieser Satz als ein Aufruf zur Ersthilfe gelesen werden. Er ruft in Erinnerung, dass nicht immer professionelle Hilfe zur Stelle ist, wenn sie gebraucht wird und appelliert an den Laien, durch ein Mindestmaß an Kenntnis und Übung eine lebensrettende Brücke bis zum Eintreffen der Notfallrettung zu bilden. In weiterer Betrachtung offenbart sich in diesem Satz jedoch auch eine grundlegende Logik sozialer und technischer Systeme. Denn, solange diese wie gewohnt funktionieren, folgen deren Abläufe bestimmten vorgegebenen Regeln und Ordnungen. Jedes Element eines solchen Systems dient einem bestimmten Zweck oder hat einen vorgesehenen Nutzen. Ein Stuhl dient zum sitzen. Ein T-Shirt wird als Kleidungsstück verwendet. Ein Maurer mauert Mauern und ein Rettungssanitäter rettet Menschen in Not. Der Schock einer Katastrophe wirft diese Ordnung durcheinander. Stühle werden zu Tragen, T-Shirts zu Verbänden und Maurer zu Rettungssanitätern. „You are the help until help arrives“ eröffnet in diesem Sinne einen utopischen Raum zwischen zwei funktionalen Systemzuständen und unterbricht für einen kurzen Moment die Logik und den Verlauf unserer gewohnten Wirklichkeit, indem das Stellvertretende und Provisorische zum Eigentlichen und Echten wird. „You are the help until help arrives“. Was im Alltag von der CERT-Gemeinde immer nur als fiktives Szenario, als ein Schauspiel exerziert wurde, wird während der Katastrophe – und nur dann – zur Wirklichkeit. Menschen, die im echten Leben immer nur Schauspieler in Katastropheninszenierungen sind, werden in der Unwirklichkeit der Katastrophe zu echten Rettern. In der Unterbrechung des regulären Programms durch die Katastrophe sind die sonst in die Abläufe des Systems integrierten Bestandteile sich selbst überlassen. Dieser anarchische Zustand führt einerseits zu Orientierungslosigkeit und Chaos, andererseits ist er ebenso ein Moment der Selbstverwirklichung – der Eigenverantwortung, der Kreativität und Improvisation. Die Katastrophe bringt das Beste und das Schlechteste in Menschen zum Vorschein. In ihrer Unmittelbarkeit zeigen sich – so scheint es – die wahren Gesichter der Menschen, die sonst unter den Masken ihrer gesellschaftlichen Rollen verborgen sind.

Analog zur Unterbrechung der kontinuierlichen Prozesse durch die Katastrophe wurden die Sequenzen der Videoarbeit so weit verlangsamt, dass die Brüche im Fluss des Films – die Übergänge zwischen den einzelnen Frames – sichtbar werden und dessen Zusammenhang zu einer Reihe einzelner Bildern zerfällt. Die zum Vorschein gebrachten Umbrüche wurden anschließend durch die Interpolationen eines Algorithmus geglättet. Bei dieser Methode werden ausgehend von den Unterschieden benachbarter Frames neue computergenerierte Bilder erzeugt, mit denen die Lücken die durch die verlangsamte Wiedergabe entstehen, gefüllt werden. Diese Bilder werden, ähnlich wie die Imagination fiktiver Katastrophenszenarien, auf der Basis von Vermutungen, Berechnungen, Wahrscheinlichkeiten und Annäherungen erzeugt. Was im Bereich zwischen zwei Bildern tatsächlich passiert kann ebensowenig mit definitiver Sicherheit berechnet werden, wie der Verlauf einer Katastrophe präzise vorhergesagt werden kann. Jedoch können beide Lücken mit einer unendlichen Variation von möglichen Szenarien und Entwürfen gefüllt werden. Fehlstelle und Bruch offenbaren sich damit nicht nur als Abgrund und Gefahr, sondern ebenso als Möglichkeitsraum und damit als eine Voraussetzung kreativer Prozesse und eines freien und selbstbestimmten Handelns. Zukunftsfiktionen, Schauspiel und der Entwurf von Katastrophenszenarien zeigen sich als der Ausdruck einer lebensrettenden Fähigkeit zur Fantasie.