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LUKAS SCHILLING

(Über) das Drachensteigenlassen

2021

Text, Theorie

Wie der Kapitän eines Schiffes halte ich so gut es geht den Kurs, indem ich zwischen den Einflüssen der Kontraktionen meines Herzens, meiner Atembewegung, dem Anflug eines Gedanken und einer auf meinem Kopf landenden Fliege vermittle. Mir wird bewusst, dass in jedem kleinsten Moment meiner Linienführung unzählige Prozesse und Veränderungen in und um meinen Körper herum stattfinden und alles, was ich tun kann darin besteht, möglichst wachsam zu bleiben, um auf sie reagieren zu können. Manche dieser Einflüsse treten überraschend ein, andere bahnen sich langsam an. Segelnd oder zeichnend ein Ziel zu erreichen, bedeutet wohl vor allem, die Zeichen des Windes und der Wellen lesen zu lernen, die Aufmerksamkeit zu trainieren und sich in eine offene, mit allem rechnende Haltung zu begeben.

S.39.

Das emanzipatorische Potential der Designwissenschaft besteht in einer Restauration der aisthetischen Erkenntnisgrundlage – dem Körper – und dessen Reintegration als einer epistemologischen Basis in das Wissen. In diesem Zuge werden Wissende zu Gestalter:innen und stimmfähig und verantwortlich für ihr Wissen. In diesem Sinne kann das Sprichwort „Wissen ist Macht“ für die Designwissenschaft, die immer ein Teil ihres eigenen Wissens ist, nicht zutreffen; sie weiß in erster Linie durch eine Hingabe. Ihre Erkenntnis ist immer auch eine Selbsterkenntnis. Ihr Wissen ist rekursiv und damit unabschließbar. Sie gelangt nie zu einem Wissen, sie kann nur wissen.

Damit kann die Designwissenschaft auch keiner Teleologie folgen oder einen Anspruch auf Wahrheit erheben. Ihre Aufmerksamkeit gilt nicht einer Wahrheit hinter den Erscheinungen, sondern den Erscheinungen selbst. Vielleicht mahnte bereits Johann Wolfgang von Goethe zu einer designwissenschaftlichen Sicht auf die Welt, als er schrieb:

„Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.“

Auch der Drachen hat keine Bestimmung, keinen Sinn und kein Ziel. Er ist vielmehr Selbstzweck, Funktionalität ohne Funktion. Man lässt einen Drachen steigen, weil es eine schöne Sache ist. Ganz einfach. Es ist nichts dahinter. Die Erfahrung an sich ist das Ziel. In Bezug auf Kant’s Schönheitsbegriff schreibt Umberto Eco das Schöne sei:

„Wohlgefallen ohne Interesse, Zweckmäßigkeit ohne Zweck, Allgemeinheit ohne Begriff und Regelmäßigkeit ohne Gesetz. Das heißt, man freut sich an dem schönen Ding, ohne es deshalb besitzen zu wollen, man betrachtet es, als sei es für einen bestimmten Zweck zur Vollkommenheit organisiert, während in Wirklichkeit das einzige Ziel, dem diese Form zustrebt, das eigene Bestehen ist, und deshalb freut man sich so, als verkörpere es in Vollendung eine Regel, während es sich selbst die Regel ist.“

Trotz seiner Ziellosigkeit fliegt der Drachen mit der eindringlichsten Bestimmtheit. Ebenso wie der Drachen in seinem Flug nie ein Ziel erreicht, wird die Designwissenschaft nie zu einer Wahrheit gelangen, denn ihr Anliegen ist nicht das Wissen, sondern zu wissen. Das ästhetische Erleben ist Ausgangspunkt und Ziel sowohl der Designwissenschaften als auch des Drachensteigenlassens. Die Hingabe oder „Gelassenheit gehört sowohl zu der Einstellung, mit der wir uns für das ästhetische Erleben öffnen sollten, als auch zu dem existentiellen Zustand, den wir durch ästhetisches Erleben erreichen können.“ So endet auch meine Auseinandersetzung, wo sie beginnt: Beim Drachensteigenlassen. Vielleicht ist das Einzige was wir wirklich tun können, um zu wissen, was das Drachensteigenlassen ist: Einen Drachen steigen zu lassen. Vor dem Hintergrund dieser Annahme ist die einzig allgemeingültige Aussage, die ich treffen kann wohl:

„Know for yourself!“

– S.104-105.